Einführung zur Eröffnung der
Ausstellung Varieté
Bruno Griesel am 04.09.2015 in Köthen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr über die ehrenvolle Aufgabe, als Kunsttheoretiker im Rahmen der heutigen Ausstellungseröffnung einige kurze fachliche Ausführungen zum Künstler Bruno Griesel und zu seinem Werk machen zu dürfen.
Zu Beginn habe ich vorerst eine Frage an Sie: kennen Sie diese Symbole? (Pi Symbol zeigen)
Sie erahnen sicherlich, dass es sich um griechische Buchstaben handelt, die als Symbole bzw. mathematische Konstanten zur Berechnung von Kreisumfang/-durchmesser sowie als kleines und großes Phi vielbedeutend in Mathematik, Physik, Chemie, Geografie und Biologie herangezogen werden. Doch was hat das mit Bruno Griesel und seinem künst-lerischen Schaffen zu tun?
Seit nahezu 30 Jahren ist er an zahlreichen Ausstellungen rund um den Globus beteiligt gewesen. Sie führten ihn und seine Werke beispielsweise im Jahr 2000 nach New York, 2003 nach Barcelona und Shanghai sowie 2012 nach Salzburg. In dieser Eigenschaft ist Griesel stets als künstlerischer Botschafter für die Leipziger Malerei aktiv. So auch heute Abend...
Doch kommen wir zu Bruno Griesels bildkünstlerischem Werk: Was ist das Besondere seiner Malerei und seines großen internationalen Erfolgs?
Ein wichtiger Grundstein ist sicherlich des Malers Anknüpfung und thematische Auseinandersetzung mit wichtigen Epochen der Kunstgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Bruno Griesels Malstil ist narrativ und oft figurativ, jedoch offenbart er einen eigenwilligen Tra-ditionalismus, der in seiner Rätselhaftigkeit den Betrachter immer wieder aufs Neue herausfordert.
Griesel entführt den Betrachter in farbkräftige und zugleich feinfühlige Darstellungen von Räumen und in ihnen agierender Personen. Sie muten vordergründig wie expressionistisch-symbolistische Szenerien an. Seine Figu-ren erscheinen vor mythologisch oder auch biblisch anmutenden Folien und werden im Zusammenspiel der Kompositionen kritisch einer philosophischen und psychologischen Analyse unterzogen.
Versatzstücke verschiedener Naturwissenschaften sowie theologisch-philosophische Ansätze bestimmen die Kompositionen. Dualistische Anordnungen von Formen und Objekten bevölkern surreale Räume und geben dem Betrachter Rätsel auf. Sie erscheinen widersprüchlich und bisweilen antagonistisch.
Die Ausstellung, zu der wir uns heute Abend eingefun-den haben, trägt den Titel Varieté. Er läßt erahnen, dass uns die jüngsten malerischen Werke von Bruno Griesel in eine außergewöhnliche Welt voller Spektakel und ar-tistischer, musischer oder tänzerischer Leistungen entführen werden. Eine der zentralen Darstellungen findet sich auf der Einladung, die sie sicherlich erhalten haben. In ihr verbindet Griesel motivisch die Illusion des „wahren Sehens“ in Form des Portraits.
Thomas Fritsch - Musiker | 2014 | 120 x 90 cm | Öl auf Leinwand
Der links im Bild Dargestellte ist der bekannte Varietekünstler Stephan Masur. Er hat gerade ein filigranes Luft-gebilde mittels miteinander verbundener Seifenblasen gezaubert, welches an seiner linken Hand von den Seifenblasenringen herabhängt. In der Mitte der sechs Bla-sen ist ein würfelförmiges Gebilde eingeschlossen – so sehen wir es als Betrachter.
Physikalisch betrachtet haben Seifenblasen aufgrund der Oberflächenspannung die Eigenheit, wenn sie aufeinan-dertreffen nach der kürzesten Verbindung zu streben, so dass sich bei einer Anzahl von sechs verbundenen Seifenblasen im Zentrum ein Rechteck oder gar Würfel bildet. Für unser Auge ist dies anhand der Lichtspiegelungen meist nicht erkennbar, doch der Artist Masur vermag mittels eines kleinen Strohhalms (den er auf dem Bild in der Rechten hält) das flüchtige und filigrane Zentrum mit Rauch auszublasen, so dass vor dem Auge des Betrach-ters ein imaginärer Würfel oder die Illusion eines aus Luft bestehenden Würfels erscheint.
Bruno Griesel bannt den flüchtigen Zauber ohne jedoch den Trick vom „Haus des Windes“ zu entzaubern. Jeder Zauber bedarf allerdings eines Zauberers, der durch Konzentration, Geschicklickeit und Verführungskraft das Publikum betören kann. Der hochkonzentrierte Blick und die angespannte Haltung des Porträtierten demonstrieren es uns. Folgen wir dem Blick Masurs über das mittige Objekt hinaus, erkennen wir im Hintergrund in den Bild-raum hineinragende, hintereinander gereihte Wände/Tafeln, welche die geometrischen Formen des Quadrates und Kreises wiederholend aufnehmen. In ih-rem Zwischenraum verbinden sie sich in einer Konstruk-tionszeichnung aus Licht und Schatten die Formen zu ei-nem kaum wahrnehmbaren Gebilde.
Weitere rätselhafte wissenschaftsphilosophische und mathematische Symbole stehen auf dem bunten Fries der Rechtecke und Dreiecke im Bildvordergrund, es sind die eingangs gezeigten Symbole (Pi) und (Phi).
Die dargestellte Welt der Symbole und optischen Ver-suchsaufbauten verweist uns Betrachter auf die Wahrnehmungslehre der Gestaltpsychologie. Wissen Sie, was sie beinhaltet? Die etwa 125 Jahre alte Richtung der Psychologie fragt nach der Erkennbarkeit von Formen und wie wir Zusammenhänge zwischen Dingen erkennen. Die vielen Schulen der Gestaltpsychologie gehen zurück auf die Formulierung des Philosophen Chris-tian von Ehrenfels, die besagt, dass Wahrnehmung Qualitäten beinhaltet, die sich nicht aus der Anordnung einfacher Sinnesqualitäten ergeben. Dieses abstrakte Prinzip der Wahrnehmung, greift Bruno Griesel in seiner Arbeit auf.
Sehen als Bestandteil der Wahrnehmung ist also konstruiert und evoziert eine Vorstellung. Blicken wir auf ein Bild, sehen wir wirklich alle das selbe? / Welche Informatio-nen des anatomischen Sehens werden vom Gehirn tat-sächlich in ein Bild verwandelt? Die Lehre des Sehens reicht von der Antike bis heute.
Die meisten Wissenschaftler der Antike, darunter Euklid und Ptolemäus, nahmen an, dass sogenannte „Sehstrahlen“, die vom menschlichen Auge ausgehen sollten, die Umgebung abtasteten und so den visuellen Eindruck im Gehirn erzeugten, ähnlich einem Blinden, der seine Umgebung mit einem Stab abtastet. Der Perser Alhazen (* um 965 in Basra; † 1039 oder 1040 in Kairo) jedoch ging auf neue Weise an die Frage heran, indem er den Aufbau des Auges analysierte. Er erkannte die Bedeu-tung der Linse im Auge und widerlegte in wissenschaftlichen Experimenten die Sehstrahlen-Theorie. Er erweiterte auch die Theorien Ptolemäus‘ zur Lichtbrechung und Lichtreflexion; insbesondere hat er die Eignung gewölbter Glasoberflächen zur optischen Vergrößerung erkannt und beschrieben. Mit diesen Erkenntnissen stellte er Lesesteine aus Glas her – die Lupe. Alhazen führte auch Versuche zur Farbmischung und Camera Obscura aus.
Die Reminiszensen in Bruno Griesels Werk gelten jenen bedeutenden optischen Experimenten von Alhazen und seiner induktiv-experimentellen wissenschaftlichen Arbeitsweise. Auch bei Bruno kommt zuerst das Experiment aus dessen Versuchsergebnissen die Theorie abgeleitet wird.
Doch nun genug der Theorie.
Schreiten Sie zur Tat und lassen Sie sich bannen von Bru-no Griesels fantasievollen und brilliant farbigen poetischen Szenen, lassen Sie sich verzaubern von den Akteuren in surrealen Welten voller vermeintlich disparat tradierter Motive, die in ihrer Verbindung epochenübergreifend fungieren und spannende oder auch rätselhafte Geschichten erzählen vom Mythos der Welt und ihrer vielschichtigen Entwicklung bis in die Moderne.
Erleben Sie Bruno Griesels bildgewordene Imaginationen, durchwandern Sie als Betrachter überdauernde Zeitalter bis zur Gegenwart und gewinnen Sie eine Vorstellung von Wandel und Stetigkeit, von Zeit und Ewigkeit und der Sehnsucht der Kunst.
M.A. Thorsten Hinz