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Ausstellungseröffnung

Bruno Griesel, 14. Januar 2016

Zeichnungen & Malerei von Bruno Griesel: White Cube
„Der Titel der Ausstellung verweist auf den architektonischen Körper des Weißen Hauses.

Alles Farbige kann die Außenhülle des Raumes nicht durchbrechen, da das farbige Licht durch Interferenz bei der Durchdringung daran gehindert wird, seinen Farbwert zu behalten. Der Titel verweist somit auf einen besonderen Ausstellungsraum, in welchem die Farben, in diesem Fall die Bilder, gefangen und gut aufgehoben sind.“

Geometrie 1 | 2012 | 70 x 100 cm | Öl auf Leinwand

Es gibt Künstler, die nichts schlimmer finden als Menschen, die versuchen mit ihren Worten die Kunst zu erklären. Man bräuchte ja nicht malen, wenn man das, was man eigentlich sagen wollte, einfach sagen könnte. Das Bild beginnt dort, wo Sprache endet.  

Aber es gibt Menschen, die Künstlern beharrlich die Frage stellen: Was haben Sie sich eigentlich gedacht bei diesem Bild, bei diesem Gedicht, bei dieser Komposition? Der Dichter Reiner Kunze hat einst zu einem seiner Gedichte folgenden Brief erhalten:

Sehr geehrter Herr Kunze,
für die Ausarbeitung einer Interpretation eines Ihrer Gedichte bitte ich Sie um eine Stellungnahme. [...] Wir wenden uns direkt an Sie, weil Sie einer der we-nigen Dichter sind, die wir bearbeitet haben und noch nicht das Zeitliche gesegnet haben, deshalb wäre es eine einmalige Gelegenheit für uns, auch einmal die Absicht des Verfassers persönlich zu er-fahren. Da wir in Zeitnot sind, bitten wir Sie, uns eine schnelle Antwort zukommen zu lassen.

Porto für die Antwort liegt bei.
Vielen Dank im Voraus.
Bremervörde, den 18.09.861 

Den Brief publizierte der Autor zusammen mit dem be-treffenden Gedicht, dazu die Überschrift: „Mit Rückporto oder das Ende der Interpretation“. Mehr nicht. Kein Fa-zit, keine Erklärung. Das Arrangement der Texte wurde selbst zur feinsinnigen Aufforderung des Dichters, seine Texte doch, bitte schön, unerklärt zu lesen.

Ja, es gibt eine Weise der Interpretation, die Texte tötet – und Bilder auch! Weil sie im klugen Reden über die Kunst genau das verhindern, was geschehen kann –heute Abend und für alle, die diese Ausstellung besu-chen. Dass sich etwas Bestimmtes, Persönliches, Indivi-duelles ereignet, wenn Sie vor einem der Bilder Bruno Griesels stehen.

Bruno Griesel – der Künstler
Ich weiß nicht, was geschieht, wenn Sie heute Abend Bruno Griesel selbst fragen, was er sich eigentlich ge-dacht habe – bei diesem oder jenem Kunstwerk. Er ist ja hier, der Künstler mitten unter uns, leibhaftig, greifbar, ansprechbar, befragbar. Bruno Griesel, 1960 in Jena geboren, im Alter von elf bis 17 Jahren Schüler hier in Markkleeberg, geprägt durch die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, geprägt vor allem durch Pro-fessor Heisig, bei dem er in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre Meisterschüler war. Bruno Griesel, welt-weit bekannt als ein Vertreter der Neuen Leipziger Schu-le (so umstritten dieser Begriff auch ist) – vertreten mit Ausstellungen in New York, Shanghai, Salzburg – und natürlich vielfach in Deutschland und in unserer Gegend: Köthen, Leipzig.

Bruno Griesel ist erfreulich und bewundernswert entspannt, wenn es um die Betrachtung seiner Bilder geht. Ja, er hat sich viel gedacht bei den Meisterwerken, die er uns hier im Weißen Haus zeigt. Er hat sich in Themen versenkt, historisch und theoretisch tief gegraben. Die Bilder sind sorgsam konzipiert und handwerklich mit höchster Präzision und oft über Monate gestaltet.  

Aber so sehr das alles gilt, so sehr ist es auch möglich, sich seinen Bildern ganz anders zu nähern. Sich unmittelbar emotional ansprechen zu lassen. Denn diese Bil-der sind ja auch erst einmal ‚schön‘ – und dürfen das auch sein. – Haben Sie schon gesehen, wie der blaue Rock leuchtet, den das Mädchen mit dem leeren Buch in den Händen trägt? Haben Sie die drei roten Äpfel bereits wahrgenommen, die auf einem der Bilder zu sehen sind und auf einem Tisch liegen und strahlen in ihrem Rot? Oder die Maserung des braunen Holztisches, der gleich mehrfach begegnet in diesen Räumen? Oder die Spiegelung dieses Tisches und des Himmels in einer Kanne, die auf dem Tisch steht? Ist Ihnen der Gesichts-ausdruck der Menschen in den Porträts aufgefallen?

Gefühle sind schnelle Gedanken
Wer diese Werke betrachtet und etwas fühlt, hat schon eine Interpretation, freilich eine vorverbale, nonverbale und doch wahre. Bruno Griesel hat einmal den schönen Satz gesagt und geschrieben: „Gefühle sind schnelle Gedanken.“ Ja, Bruno Griesels Bilder dürfen, so viel sich der Künstler auch dabei ‚gedacht‘ hat, einfach emotio-nal ansprechen. Sie dürfen gemocht werden. Oder als merkwürdig empfunden. Sie dürfen Begeisterung auslö-sen – oder mehr oder weniger mildes Entsetzen. Und natürlich Verwunderung.

Wer weiß, was Sie anspricht, wenn Sie durch die Räume gehen …
Musikinstrumente vielleicht, die so gemalt sind, dass die Klänge, die zu ihnen gehören, noch verborgen und doch schon fast zu hören sind … 

Oder das Wechselspiel von Weiß und Schwarz auf der einen Seite und Farben auf der anderen: immer wieder: rot, grün, blau?

Wer weiß, was Sie anspricht?  
Die Stadt Salzburg – hier nebenan zu sehen.
Oder die Buchstaben, die immer wieder eingestreut sind in die Werke und in ein Wechselspiel von Text und Farben, Text und Formen hineinziehen?

Gaudete | 2012 | 120 x 160 cm |Öl auf Leinwand
Die Tasse | 2012 | 70 x 100 cm | Öl auf Leinwand
Die Kanne | 2012 | 70 x 100 cm | Öl auf Leinwand
Schrödingers Katze | 2012 | 160 x 200 cm |Öl auf Leinwand

Oberfläche und tiefere Ebenen
Es lohnt sich, die 28 Bilder, die Bruno Griesel uns in dieser Ausstellung zeigt, genau zu betrachten. Und dann nicht nur die Oberfläche wahrzunehmen, sondern viel mehr zu entdecken.

Musik und Malerei
Es geht um Musik in diesen Bildern – und schon allein deshalb passt diese Ausstellung wunderbar in dieses neugestaltete „Weiße Haus“. Ganz besonders hier im Foyer sind Bilder zu sehen, die Musik darstellen. Bruno Griesel ist ein Künstler, dessen Malerei sich im Dialog mit anderen Künsten bewegt. „Flöte und Farbakkord“ heißt das wunderbare, 2m mal 1,50m große Bild, das 2015 entstand und das die Welt der Musik und die Welt der Malerei in Verbindung bringt. Rot, grün, blau – drei Farben als Grundakkord der Malerei sind immer wieder zu sehen: in Rhomben, im Tuch, im Rock der jun-gen Flötistin. Drei Farben als Grundakkord – entspre-chend den drei Tönen musikalischer Akkorde. Drei Far-ben, aus denen nach der Theorie additiver Farb-/Licht-mischung alles entsteht (wobei sich bei gleicher Intensität der drei weiß ergibt). Drei Töne, aus denen die hörbare Welt immer neu wird. Und merkwürdigerweise immer wieder drei … Den Theologen freut’s natürlich – und stellt ihn doch auch vor Rätsel. Wie sagt Mephisto in Goe-thes Faust? „Es war die Art zu allen Zeiten,/ durch Drei und Eins, und Eins und Drei/ Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.“ – Oder eben doch kein Irrtum, wie sich im Wechselspiel von Musik und Malerei noch einmal neu zeigt?

Physik, Mathematik und das Verstehen der Welt
Ja, es geht um Musik in dieser Ausstellung. Aber es geht auch um Physik. Nicht eigentlich um die Physik, die man meist in der Schule lernt, sondern um die Physik, die viel mehr Philosophie ist und die kaum jemand wirklich ‚ver-steht‘. Bruno Griesel liebt es mit seiner Malerei an solche Grenzen des Verstehens zu führen. „Schrödingers Kat-ze“, 2012 entstanden, heißt eines der berühmtesten neueren Bilder Bruno Griesels. 1935 stellte Erwin Schrö-dinger (ich sage es jetzt sehr vereinfacht) fest, wie paradox es ist, wenn man versucht, quantenmechanische Begriffe und Theorien auf unsere Welt zu übertragen. Es wäre dann nämlich möglich, eine Katze nach den Re-geln der Quantenmechanik in einen Zustand zu bringen, in dem sie zugleich „lebendig“ und „tot“ ist. Daher auch sehen Sie in Griesels Bild nicht nur eine Katze, sondern zwei. – Aber ist das nur ein Gedankenexperiment der theoretischen Physik? Ist das nicht viel basaler die Wirklichkeit, in der wir leben? Lebendig und tot? „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen …“, wie man schon im Mittelalter dichtete und wie Martin Luther übersetzte? Und ist der glücklich, der darum weiß und mit dieser Ein-sicht lebt – oder der, der das lieber naiv verdrängt? Vor dem Bild stehend werden Sie an genau diese Grenze geführt.

Ja, es sind die ganz großen Themen und Fragen, die Griesel traktiert. Aber gar nicht selten tut er es auch auf eine leichte Weise. „Der Zitronenfalter“ hängt nicht weit weg von „Schrödingers Katze“ und entstand zwei Jahre früher. Ein Spiel mit den Worten setzt Griesel ins Bild. Zitronenfalter – lassen sich Zitronen falten? In der zweidimensionalen Welt des Malers ist das möglich, klar; in der dreidimensionalen Welt, in der wir leben, wäre es undenkbar. Die Wirklichkeit, in der wir stecken und die wir oft für so unabänderlich halten, ist nur eine Dimension. Springen wir doch mit dem Maler in eine andere – und lassen wir uns den Raum zeigen, in dem man Zitronen falten kann …

Die Frage am Meer | 2013 | 100 x 120 cm | Öl auf Leinwand
Sonate BWV 1003-1720 | 2013/14 | 200 x 150 cm | Öl auf Leinwand
Das Kleid | 2013/14 | 160 x 110 cm | Öl auf Leinwand
Die Lösung – Das E x periment  | 2014 | 110 x 160 cm | Öl auf Leinwand

Licht und Farbe
Es geht um Musik, es geht um Physik, es geht um die Künste und um die Wahrnehmung unserer Welt. Aber immer wieder und beinahe in allen Bildern geht es um das Licht und die Farbe. Wie könnte es auch anders sein – ist das Licht und sind die Farben doch die Grundlage der Kunst der Malerei. Paul Klee hat einmal gesagt: „Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.“2

In einem „Weißen Haus“ (und in einem Park, der heute Abend weiß ist von Schnee, und in einer Ausstellung, die den Titel WHITECUBE trägt, weißer Würfel) lässt Bruno Griesel uns ein in die Welt der Farben.

Er sagt selbst einmal von sich: „In meinem Leben habe ich einige Farbperioden festgestellt …“ Zunächst war es bei Griesel eher rot; seit 1987 violett; 1990–1995: blau; bis 1997: grün; zunehmend dann Weg hin zum reinen Weiß. – Weiß, die hellste aller Farben, die für unsere Wahrnehmung immer dann entsteht, wenn ein Material das Licht so reflektiert, dass alle drei Zapfen in der Netzhaut des Auges in gleicher Weise gereizt werden. Weiß – das ist eigent-lich ein Gemisch aus Einzelfarben und lässt sich mit ei-nem Prisma zerlegen in einzelne Spektralfarben (auch wenn Goethe dies anders als Newton erst nicht glauben und nicht wahrhaben wollte). Weiß – das ist so auch ein Symbol, wie aus dem Vielen das Eine wird und Vielfalt und Einheit zusammengehören.

In der Bibel gibt es die Farbe „Weiß“ nicht oft – aber in herausgehobenen Momenten begegnet sie doch. Als Jesus mit drei seiner Jünger auf einem Berg war, da wurden seine „Kleider“ plötzlich „hell und sehr weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann“ – und Jesus wurde verklärt vor ihren Augen. Er wurde aus dem Ir-dischen ins Himmlische gezogen. Ein Leuchten, ein Strahlen, das über diese Welt hinausgeht und doch mitten auf dieser Welt zu sehen war.

Der Künstler Bruno Griesel ist auch ein Mystagoge – ich hoffe, Sie erlauben mir diese Bezeichnung. Einer, der uns herausholt aus dem, was wir üblicherweise wahrneh-men, und uns mit Rätseln, mit Geheimnissen konfrontiert. Im WHITECUBE, im weißen Würfel, zeigt uns Bruno Griesel, was es mit Tönen und Farben, Texten und Gegenständen auf sich haben könnte. 

Der Weg an die Grenze
So führt diese Ausstellung an Grenzen – unserer Wahr-nehmung und erst recht unseres Verstehens. Und ich den-ke mir, Bruno Griesel hat große Freude, uns genau dort zu erleben.

Standen Sie schon dort hinten vor dem Stillleben mit den drei roten Äpfeln (ja, schon wieder drei!) und einer Kanne auf einem Holztisch? Und haben Sie den Titel zu die-sem Werk bereits gelesen: „Die Frage am Meer“? Aber da ist kein Meer … Oder doch?

Vom heiligen Augustinus wird erzählt, dass er am Meer spazieren ging – damals, als er an seinem großen Werk über die göttliche Dreifaltigkeit arbeitete. Und man weiß zu berichten, wie er dort ein kleines Kind beobachtete. Das Kind hatte ein Loch in den Sand gegraben und lief nun mit einer Muschel in der Hand immer wieder zum Wasser, schöpfte mit seiner Muschel, rannte zurück und goss das Wasser in das Loch. Darauf lief es wieder zum Wasser, schöpfte und wiederholte das Ganze immer aufs Neue.
Nach einiger Zeit fragte Augustinus: „Was machst Du denn da?“ Und das Kind antwortete ihm: „Ich schöpfe das Meer in dieses Loch!“ Augustinus schüttelte den Kopf und sagte: „Du kleiner Narr, das ist doch unmög-lich. Du kannst das große, weite Meer, doch nicht in dieses Loch füllen!“
„Aber du bildest dir ein“, meinte daraufhin das Kind und blickte den großen Gelehrten durchdringend an, „dass du das große Geheimnis der Dreifaltigkeit mit deinem Kopf erfassen kannst!?“

Dahin also führt uns Bruno Griesel mit seinem ebenso überwältigend schönen wie denkbar schlichtes Arrange-ment von drei Äpfeln und einer Kanne: zu den ganz großen Fragen und an die Grenze des Verstehens, dorthin, wo der reife und kluge Theologe alt aussieht gegenüber der spielerischen Leichtigkeit des Kindes.

Neue Wahrnehmung im neu gestalteten weißen Haus
Warum besucht man also eine Ausstellung? Vielleicht weil man nach dem Besuch das Licht noch einmal neu und anders wahrnimmt.
Und Farben ganz neu entdeckt.
Musik anders hört.  
Und die Welt mit anderen Augen sieht.

Alexander Deeg 


*2 Paul Klee, Tagebücher 1898–1918, hg. v. Felix Klee, Köln 1957,