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Bruno Griesel wurde 1986 Meisterschüler von Bernhard Heisig an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, genau in jenem Jahr, als Heisig, einer der bedeutendsten Maler der DDR, mit seinem offiziellen Portrait des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt auch einem breiteren Publikum in Westdeutschland bekannt wurde. Nachdem Griesel langsam den Heisig-Stil, eine graue, ernste, existenzielle Malerei, abgeschüttelt hatte, fand er um die Mitte der 1990er-Jahre zu einer farbstarken, enorm sinnlichen Malweise voller symbolistischer und allegorischer Tendenzen, die inhaltlich immer wieder um das Thema des Geschlechterverhältnisses kreiste. Als Einzelfiguren, in Zweier-, Dreier-, Viererkonstellationen kommen Frauen und Männer (am prominentesten stets Frauen) ins Bild, deren Körper vor Vitalität zu bersten scheinen, was sich nicht zuletzt in ihrer eigenwilligen Anatomie zeigt.

Mit ihrem farbsymbolischen Inkarnat in Violett, Blau, Grün oder Gelb wirken sie aufgeladen mit erotischer Energie, klammern sich in oft waghalsigen, tänzerisch anmutenden Posen aneinander, die zuweilen an Hebefiguren des klassischen Balletts erinnern. So emotional und expressiv sich diese Bilder auch präsentieren, es handelt sich bei ihnen dennoch keineswegs um eine eruptive, aus dem Empfindungsaugenblick kommende Malerei. Vielmehr sind sie das Ergebnis von zum Teil sehr langwierigen Arbeitsprozessen, von zahlreichen Übermalungen, die sich unter Umständen über Jahre er-streckten und z. T. an den kräftigen, pastosen Farbschichten ablesbar sind.  

Um die Jahrtausendwende ist in Griesels Kunst eine merkliche Veränderung, ein formaler und inhaltlicher Bruch, zu bemerken. Sein Malstil wurde ruhiger, kühler, detaillierter, die Inhalte intellektueller. An die Stelle sinnlich-direkter Themen traten zum Teil sehr elaborierte, komplexe, oft verrätselte Szenen, in denen nicht nur das kunsthistorische Wissen des Künstlers aufscheint, sondern sich auch seine weit gespannten Interessen an mythologischen, naturwissenschaftlichen, philosophischen, theologischen und neuerdings auch musiktheoretischen Fragen widerspiegeln. Wo die Bildräume in den 1990er-Jahren meist unbestimmt und vage gehalten waren, öffneten sich nun Außen- und Innenräume voller symbolischer Bezüge und stilllebenhaftem Detailreichtum. Überhaupt wurde das Stillleben neben den Figurenszenen zu einer immer wichtigeren Bildgattung. Griesels Malerei entwickelt sich in steter Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte. In mehreren Arbeiten setzte er sich ebenso geistreich wie kritisch mit Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ als einer der Gründungsikonen der Moderne auseinander. Eine überraschende Konstante in seinem Werk seit 2000 ist die intensive Beschäftigung mit der Kunst des Rokoko.

Der Zitronenfalter | 2010 | 160 x 110 cm |Öl auf Leinwand
Objet trouvé – Das Reiseurinal | 2010 | 160 x 110 cm | Öl auf Leinwand

Überraschend insofern, als es diese Stilrichtung des 18. Jahrhunderts so-wohl bei Kunsthistorikern als auch beim allgemeinen Publikum lange Zeit schwer hatte, galt doch das Rokoko als frivol, leichtfertig, oberflächlich, kunsthandwerklich, ornamental und überladen – eher als ein dekadentaristokratischer Stil denn als Kunst der „bürgerlichen Mitte“.

Was Griesel am Rokoko dennoch fasziniert, sind zum einen dessen Eleganz und der ins Extrem getriebene Sinn für Formen, zum anderen offenbar aber auch die Paral-lele zur heutigen (Post-)Postmoderne mit ihrem Eklektizis-mus, dem Hang zum Theatralischen und dem Verlust der Verbindlichkeit absoluter Wahrheiten, was Jean-Francois Lyotard als das „Ende der großen Erzählungen“ bezeichnete.

Zudem ist Griesel von der im 18. Jahrhundert verbreiteten „maladie de porcelaine“, der  Leidenschaft für das „weiße Gold“ infiziert: In seinen Bildern finden sich immer wieder Porzellanfiguren als Motive, z. B. das wei-ße Pfauenpaar in „Pierrot: Maske und Person“ von 2010, das von einem leeren, schwebenden, ebenfalls weißen Pierrotkostüm getragen wird. Mysteriöserweise nimmt eine der Pfauenfedern farbige Gestalt an, es scheint, als ob sich das „göttliche weiße Licht“ ins reale Leben hinein bräche (man muss beim Blick auf die Gemälde von Bru-no Griesel immer seine Vertrautheit mit Goethes Farben-lehre im Hinterkopf behalten). Der angeschnittene Schinken auf dem Tisch deutet hingegen unmissverständlich auf das Prinzip der Inkarnation, der Fleischwerdung hin.

Theologische Motive deuten sich hier an, noch direkter geschieht dies in dem mit Bravour gemalten Stillleben von 2013, das bloß drei rote Äpfel und eine silberbe-schichtete Art-déco-Kaffeekanne auf einem Holztisch zeigt. Die sorgsame Anordnung der Äpfel, die je einmal mit dem Stiel nach außen, nach innen und nach oben platziert sind, lässt einen symbolischen Inhalt erahnen – die Ahnung wird angesichts des zunächst rätselhaften Titels „Die Frage am Meer“ zur Gewissheit.

Der Titel spielt auf die bekannte Legende über den Kirchenvater Augus-tinus an, der bei einem Spaziergang am Meer einem Knaben begegnet sein soll, der mit einem Löffel das Meer auszuschöpfen versuchte.

Auf Nachfrage Augustinus’ über die Unmöglichkeit dieses Tuns erhielt er die Antwort, dass sein eigener Versuch, das Wesen der göttlichen Dreifaltigkeit zu verstehen, nicht weniger aussichts-los sei. Anspielungen auf die Trinität kommen im Werk Griesels immer wieder und in unterschiedlichsten Formen vor. Man kann „Die Frage am Meer“ als ein Experiment begreifen: Wie verändert sich die Wahrnehmung eines Gemäldes, wenn sich eine symbolische Deutung der Motive anbietet? Ist eine solche Lesart verbindlich oder hängt sie von der Einstellung des Betrachters und seiner Bereitschaft ab, sich z. B. auf theologische Fragen überhaupt einzulassen?

Griesels Gemälde, insbesondere die komplexen Großformate, sind in hohem Maße konzeptionell – nicht im Sinne der Konzeptkunst des 20, sondern eher des concetto oder der inventio, der geistreichen Erfindung, wie sie von der Kunsttheorie der Renaissance und des Ba-rock gefordert wurde. Drei Beispiele dafür sollen hier kurz genannt werden, zunächst „Die Jagd, 2:3“ von 2009. Zwei Jagdhunde stürmen hier in einer offenen Landschaft von rechts nach links. Das scheinbar so verständliche Motiv wird als allegorisches erkennbar, so-bald man bemerkt, dass sich rechts eine alte, aus dem 18. Jahrhundert stammende Ansicht von New York be-findet und sich in der Pfütze links die heutige Wall Street spiegelt. Die Hunde rennen, vom Jagdeifer getrieben, durch die Jahrhunderte. Ihr symbolischer Gehalt wird plötzlich klar, wenn man rechts unten die Schriftrolle mit der Aufschrift „Finanzmarkt“ sieht: Dynamik, Gier, Verbis-senheit als Motoren einer sich immer weiter beschleuni-genden gesellschaftlichen Entwicklung. (Das Bild ent-stand kurz nach der Insolvenz der amerikanischen Bank Lehman Bros., die bekanntlich eine weltweite Finanzkrise ausgelöst hatte). Selbst der Grasstreifen im Hintergrund ist nicht nur, als was er zunächst erscheint. Wer genau hinsieht, wird bemerken, dass sich die Abfolge der Hal-me und Löwenzahnstängel wiederholt. Es handelt sich um ein doppeltes Zitat des berühmten, 1524 gemalten „Großen Rasenstücks“ von Albrecht Dürer aus der Alber-tina in Wien. Griesel selbst verweist auf eine symbolische Bedeutung, indem er auf die Bibelzeile 1. Petrus 1:24 hinweist, die auch in Johannes Brahms’ „Deutschem Requiem“ gesungen wird: „Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.“ Sind die drei im Bild schwebenden Handglocken wieder ein Hinweis auf die Trinität? Wird hier die blinde Geschichtsdynamik eines entfesselten Kapita-lismus relativiert durch eine überzeitliche Instanz? 

Eine besonders ambitionierte Komposition, deren Komplexität hier nur in Umrissen angedeutet werden kann, ist das Bild „Schrödingers Katze“ von 2012. Das im Mittel-punkt des großformatigen Gemäldes befindliche Porzellanfigurenpaar „Zwei spielende Katzen“ steht hier für das berühmte Gedankenexperiment von 1935, das der österreichische Physiker Erwin Schrödinger erdachte, um die Paradoxien der Quantentheorie zu veranschaulichen. Eine Katze, die in einem abgeschlossenen Gehäuse eingeschlossen ist, würde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch eine Giftkapsel getötet werden, deren Aktivierung wiederum von dem Quantenereignis eines radioaktiven Zerfalls abhängig wäre. Nach den Ge-setzen der Quantenphysik würde sich die Katze bis zu dem Moment einer Messung von außen in einem unentscheidbaren Zustand zwischen tot und lebendig befinden.

Diese für den Alltagsverstand nicht zu fassende Überlagerung von Leben und Tod verbindet Griesel kühn mit dem alten Spruch „Media in vita in mortem sumus“, der auf dem Sockel eingemeißelt ist, auf dem sich das Experiment abspielt. Die Sentenz geht wohl bis in die Kirchenmusik des 8 Jahrhunderts zurück und ist in deutscher Fassung vor allem durch den Luther-Choral „Mitten wir im Leben sind, von dem Tod umfangen“ bekannt. Zwei weibliche Aktfiguren zu beiden Seiten des Gemäldes zeigen nun ein unterschiedliches Verhältnis zu dieser Verschränkung von Leben und Tod (die sich ja auch biologisch formulieren ließe: In unserem Körper laufen permanent und simultan Aufbau- und Abbauprozesse ab). Während die rechte, hell beleuchtete Figur ganz in sich, im Hier und Jetzt, ruht, weiß die linke, verschattete Frau um den Zusammenhang von Leben und Tod, von Anfang und Ende, was daran erkennbar ist, dass sie de-ren Symbole, ein Straußenei und eine hohle, fragmentierte Büste, im Arm trägt. Damit ist sie zwar wissender, aber auch gegen den Andrang des Nichts, der Unendlichkeit, die als schwarze Hintergrundfläche ins Bild kommt, weniger geschützt als die rechte, von gelben Schleiern oder Tüchern beschirmte Figur. Dieselbe Thematik wird in „Schrödingers Katze“ auf mehreren, sehr unterschiedlichen Ebenen ins Bild gesetzt. Das Ganze geschieht auf einer offenen, sich bis zu fernen Bergen hin dehnenden Landschaftsbühne. Die Szene ist gewissermaßen ein gemaltes existenzielles Theater, auf dem die ganz großen Themen von Leben und Tod verhandelt werden.