Die Leiden des Lichts
Nach der Rückkehr von seiner zweiten Italienreise 1790 begann Goethe mit intensiven physikalisch-optischen Farbenstudien. Goethe stellte fest: „Alles kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Aperçu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zu Grunde liegt.“ Goethes Aperçu – im Wortsinne einer bewussten Erfassung der Übereinstimmung von sinnlichem und reflektivem Erleben – war ein eiliger Blick durch ein entliehenes Prisma, das ein Bote des Besitzers wieder zurückforderte. Zu seinem Erstaunen stellte sich, als er das Prisma vor sein Auge hielt, die erwartete farbige Aufsplitterung des Lichts nicht ein, nur an der Grenze von Hell und Dunkel zeigten sich Farben. „Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, daß eine Hell-Dunkel-Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei.
“ Goethe, nur flüchtig mit Newtons Arbeiten vertraut, verurteilte dessen Auffassung von der Zusammensetzung des weißen Lichts als Sakrileg und als Angriff auf dessen wahre Natur. Das reine Licht - für Goethe Offenbarung des Göttlichen - ist ewig, einzig und unteilbar. Das höchstenergetische Licht der Sonne ist anbetungswürdig als „das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind“ - dieses Sonnenlicht konnte, wenn es ans Auge dringt, nicht anders sein als unteilbar weiß. Erst durch seine Mäßigung an trüben Medien entstünden Farben: Gelb aus Weiß, Blau aus Schwarz, weiterhin Gelbrot aus Gelb und Blaurot aus Blau. Grün sei eine Mischfarbe aus Gelb und Blau, das reine Rot entweder eine Mischung aus Gelbrot und Blaurot oder das Ergebnis einer weiteren Steigerung von Gelb oder Blau. Goethes Farbenlehre ist in ihren Wurzeln eigentlich eine Lichtlehre, deren Anspruch auf Naturwissenschaft Schwierigkeit bereitet. Goethes heiligstes Anliegen reicht über eine ästhetische Theorie des Kolorits, ein Ordnungsschema für Künstler hinaus.
Seine Farbenlehre sollte vielmehr ein paradigmatischer Entwurf von Naturerforschung sein und damit Herausforderung und Gegenentwurf zu Newtons Konzeption von Naturwissenschaft. Goethes Anspruch musste scheitern, weder seinen Zeitgenossen noch späteren Generationen war der Farbenlehrer Goethe eine wissenschaftliche Autorität. Goethes theoretischer Abriss erscheint vordergründig unüberbrückbar gegensätzlich zur Tradition neuzeitlicher Naturforschung seit 4 Galilei, Descartes und Newton. Goethes Weltruf als Dichter und Denker veranlasste jedoch Mathematiker, Physiker und Künstler zur Auseinandersetzung mit seiner Lichtlehre. Goethes Feststellung zum begrifflich urteilenden Erfassen von Sinnlichkeit und Reflexion ist auch ein Leitmotiv, mit dem sich Bruno Griesel in der Werkserie „Die Leiden des Lichtes“ auseinandersetzt.
Als Farbforscher „mischt“ der Künstler Griesel vor dem reinen weißen Hintergrund des Bildträgers seine Farben. Er mäßigt sie durch Trübung oder steigert sie im Kontrast von Hell und Dunkel. Jede Farbe bleibt simultan der anderen, denn direkte Vermischung der malerischen, chemisch beschränkten Farben lässt kein weiß, sondern grau oder schwarz entstehen. Die in der Serie fortgeführte dispersive Ordnung der Werke lässt ebenso wenig Grau entstehen und gleicht in ihrer spektralen Farbigkeit von Rot, Violett, Blau, Grün und Gelb (Gold) einem Regenbogen. Das formale Zusammenspiel der Farben in Griesels Werken ist zudem ein Spiel mit deren sinnlich-sittlicher (Goethe) bzw. psychologischer Wirkung. Die Synthese des Kampfes zwischen Hell und Dunkel, Disharmonie und Brechung ist Harmonie. Postmoderne und zeitgenössische Kunst ist angetrieben vom Prinzip der Brechung von Traditionen und Theorien mithilfe des Spiels in der Absicht einer kognitiven Entwicklung.
Bruno Griesel ist als Zeitgenosse gleichfalls angetrieben vom spielerisch-ernsthaften Umgang mit tradierten Formen, Stilen und Inhalten. Seit seinem Studium der Zeichnung und Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig in den 1980er Jahren bei den Lehrern Volker Stelzmann, Wolfgang Peuker und Bernhard Heisig setzt sich Griesel mit einem naturalistischen und figurativen Malstil auseinander. Er entdeckt seine Liebe zur Malerei des Barock und der damit verbundenen Genre (biblische Historie, Andachtsbild, Porträt), Themen (z.B. Judith und Holofernes, Perseus und Andromeda) und Motive (z.B. die drei Grazien). Tiefe Empfindungen und schmelzende Farbigkeit waren die malerischen Werte dieser Zeit, die Griesel so faszinieren. Eine weitere Inspirationsquelle für die Vertiefung mythologischer Themen sind die von Winkelmann so bezeichneten Eklektiker oder Renaissancisten aus Bologna und Venedig des frühen 17. Jahrhunderts. Doch auch die Inkunabeln der Avantgarde regen ihn zu malerischen Experimenten an: Musik, Rhythmus, Dynamik verbinden sich mit frei erfundenen, geometrischen oder abstrakten Formen und einer kognitiven Farbigkeit und eröffnen breite Assoziationsfelder, in denen „alles für alles“ stehen kann. Kasimir Malewitsch begründete mit seinem gemalten schwarzen Quadrat im Jahr 1916/18 den Beginn einer neuen Kunstrichtung, des Suprematismus. Diese radikale Reduktion der Malerei auf Form und Farbe gilt bis heute als Wegweiser der Erneue- 5 rung von Kunst und Gesellschaft und Ikone der Moderne.
Die Zweckbestimmung abstrakter Malerei als Ikone und Mittel zum Gebet, d.h. der stillen Zwiesprache zwischen Betrachter und heiligem Stellvertreter, nimmt Griesel in seinen Gemälden wiederholt zitierend auf. Vor die Folie avantgardistischer Kunstgeschichte setzt Griesel seine Symbole und Inhalte und erzeugt damit eine spannungsvolle Synthese abstrakter Figuration bzw. figurativer Abstraktion. Sein intensives Ringen mit Inkunabeln der Kunstgeschichte und deren apperzeptive Übertragung auf sein Werk ist Beispiel für eine leipzigtypische Form des Traditionalismus, der in seiner Rätselhaftigkeit den Betrachter immer wieder aufs Neue herausfordert. In Griesels farbenkräftigen und zugleich feinfühligen Darstellungen von Landschaften sowie von Frauen (Tänzerinnen) und Paaren geht es nicht um die individuelle Charakterisierung der Figuren. Vielmehr sind sie Akteure einer geistigen Haltung, Ausdruck der Komposition, die in ihrer Bestimmung die Vereinfachung und Typisierung der figürlichen Form beispielsweise auf Elemente des Tanzes und der Bewegung zeigen (z.B. Pas de trois, Die grünen Schwestern, Im Kreis – Der Winter / - Der Herbst / - Der Sommer und Paar auf übermalten Goldgrund). Die mythologische und biblische Folie, vor der die Akteure erscheinen ist gleichsam eine Hilfe für des Malers (und auch des Rezipienten) sinnlich-sittliche Analyse, als deren Ergebnis nicht selten diebisches Vergnügen an Stimmungen, Schönheit und Dekor erscheint. Gefragt nach seiner Auffassung von Malerei antwortete Picabia „ Sie besteht darin, sie zu vergessen und sie als ein optisches Vergnügen anzusehen, da meiner Meinung nach alles dekorativ ist.“
Viele Gemälde Picabias wirken deshalb wie fotografische Überblendungen, die hedonistisch die Kunstgeschichte durchdeklinieren, ohne besondere Vorlieben, höchstens für nackte weibliche Körper oder Liebespaare. Wenngleich nicht derart radikal, ein Assoziationsfeld bei der Betrachtung von Griesels Werken ist verbunden mit den Begriffen von Kitsch und Eklektizismus. Erstaunlich also, dass ein Künstler der jungen Generation wie Griesel trotz des ganzen Nachdenkens über Modernismus und Antimodernismus und trotz des Bewusstseins vom Bilderbe wieder bei der Faszination des Malens landet. Thorsten Hinz Kunsthistoriker und Kunstwissenschaftler, Leipzig