Bruno Griesel - Aufbruch der Moderne
Mit Bruno Griesel erleben wir den vollen, prallen Auftritt deutscher figürlicher Malerei. Dass Bruno Griesel, obwohl Leipziger und Kommilitone von Neo Rauch, nicht von Anfang an mit der Neuen Leipziger Schule mitspielte, hat auch sein Gutes. Wir sehen eine spannende Adaptierung der deutschen Antike-Rezeption und des Rokokostils und die Fortsetzung deutschen literarischen Romantik mit malerischen Mitteln, so wie der magisch- realistische Maler Edgar Ende, auch er ein Grenzgänger, von seinem Sohn Michael Ende literarisch fortgesetzt wurde. Griesel bereitet sich ein halb ironisches, halb ernstes Spiel, mit den Motiven der Kunstgeschichte und der Philosophiegeschichte.
Malewitschs heroische Tat von 1915, die Setzung des alle Farben aufsaugenden Quadrats als Ende der alten und Anfang einer neuen Malerei und Lucio Fontanas die Malflächen zum Raum aufreißende Vergewaltigung im Schnitt in die Leinwand von 1958: diese Inkunabeln der Kunstgeschichte haben ihn geprägt, ihnen huldigt er und gleichzeitig rechnet er mit ihnen ab, mit diesen Hauptpositionen einer dezidierten Nicht-Malerei. In Griesels Werk „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ prallen Fraktale der Historie und Weltentwürfe aufeinander. Wir sehen einen der Gebrüder Wright, zitiert nach einem Foto vom ersten Probeflug 1909, mit der Fahne in der Hand, auf der Malewitschs schwarzes Quadrat aufgebracht ist, ins Ungewisse blicken und konfrontiert mit Rokoko-Engeln aus Stein, Symbole eines der Vernunft Grenzen setzenden Glaubens. Auf dem aufgerissenen Himmel lastet ein bleierner Meeresstreifen, beide fußen auf einer leeren Raum bezeichnenden monochromen Fläche. Solcher Raum ist für Griesel das eigentliche narrative Element, denn seine Vergegenwärtigung in der Malerei war in den 90-er Jahren nicht erlaubt. Nur das Flächige durfte sich ausbreiten, Perspektive war verpönt. Bei Griesel entstehen, wie er es ironisch beschreibt, „umgekehrte Fontanas“: die Unendlichkeit des Raums begrenzt sich zu den Umrissen der Figuration auf der Malfläche.
Das `Entrée´ des „Rococo“- Projektes von Bruno Griesel bildet der `Barberinische Faun´, jene Skulptur eines berauscht schlafenden Satyrs, die als ein Hauptwerk der griechischen Kunst hellenistischer Zeit gilt. Bereits in der Antike nach Rom gebracht, diente der Satyr als Brunnenfigur in einem römischen Villengarten. Im frühen 17. Jahrhundert in der Nähe der Engelsburg ausgegraben, ließ sie der Barberini-Papst Urban VIII. im Familienpalast auf dem Quirinal aufstellen. König Ludwig I. von Bayern gelang es 1820 die berühmte Skulptur zu erwerben. Seit 1830 ist der `Barberinische Faun´ einer der großen Anziehungspunkte der Münchner Glyptothek! Bruno Griesel hat die antike Skulptur variiert und deshalb in sein „Rococo“- Projekt aufgenommen, weil er sich dabei auf eine Kopie des großen französischen Bildhauers des 18. Jahrhunderts – Edme Bouchardon (1698-1762) – bezieht, die sich seit 1892 im Louvre in Paris befindet. Es handelt sich bei Griesels Arbeit also um die Kopie einer Kopie. Die üppig quellenden Ranken außerhalb des Rahmens links sollen den „Rococo“- Bezug verstärken.
Figürlichkeit manifestiert sich bei Griesel oft als eine dreifaltige, etwa im Werk „Pierrot Lunaire“, der vom Mond Beschienene, den der Künstler aber als vom Sonnenlicht Beschienenen darstellt. Seine wahrnehmungskritische Reflexion, dass wir nämlich nur das Beschienene erkennen können- ein Gedankenspiel, das von Giordano Bruno überliefert ist- ist durch eine der Lieblingsikonen Griesels umgesetzt: dem Pierrot. Das Credo der Drei- bzw. Mehrfaltigkeit in der Kunst bezieht er auf die Forderung Peter Sloterdijks zur Vielfalt der Kunst. Sie spielt auch die Hauptrolle in den drei Werken „Das Oval und das Brot I-III“ , einer regelrecht alchimistischen Studie über den Leib des Menschenkörpers und den Laib des Brotlaibs, wobei der kleine Feuersalamander, die dreifaltige Entblößtheit der Mädchen und die Phallusform des Brotlaibs für den Künstler auf ständige Zeugung und Wandlung im schöpferischen Recycling verweisen. Das weiße unschuldsfarbige Ei, die Maske als das eigentliche, das göttliche Kulturverständnis, wie ja in der griechischen Theateraufführung die Gesichtsmaske als die wirkliche Person aufscheint, sowie die von links nach rechts zu lesende Abfolge der Bilder, die eine Bewegung der Beschleunigung erlebbar machen soll, bis zur Auflösung der Figuration in einen schlichten Kreis bzw. eine Ellipse, die in die Welt der Quanten entweicht: das wären einmal allegorisch aufgeladene Bedeutungen gewesen, wenn wir alle noch die Übereinkunft einer gemeinsamen Semantik hätten und sie eindeutig lesen könnten.
IWichtig ist also primär, dass wir zum Spiel aufgefordert sind, so wie das Rokoko gespielt hat, und in der Folge die deutsche Klassik und Romantik mit den Elementen Natur und Artefakt, in Stillleben, mit Puppenfiguren, mit Porzellanfigürchen und ihrer Größe, als Transfor- mationen und Metamorphosen von einem Element ins Andere, vom Großen ins Kleine und umgekehrt, wie wir dies in der Goethe-Reverenz „Wille und Abschied“ oder bei dem pro- grammatisch nicht fertiggestellten Bild „Flora“ sehen. Ein Spiel mit ikonographischen und kulturhistorischen Kulissen, wie mit der Aufklärung als Klärung oder englisch „enlightenment“ als ins Wasser gefallene Leuchter, dem Aufeinandertreffen barocker Weltteilungszeichen mit Botticelli-Gesten und Dürer-Gestus und schließlich das Hineinnehmen des Blickes des Zuschauers in das Bild, bekanntlich eine Bildleistung der deutschen Romantik, wie wir es etwa bei C.D. Friedrich sehen.
Als „Romantik des Rokoko“ – mit dieser paradoxen Formel ließe sich vielleicht die hochkomplexe, hochsinnliche Bildersprache von Bruno Griesel charakterisieren: eine Rückführung zum Theaterspiel einer sonnenbeschienenen, diesseitsbezogenen Welt, die an den Grenzen zwischen Wissen und Glauben eine tiefe Weltgläubigkeit einschließt, wie sie der Frühromantiker Friedrich Schlegel gepflegt und wie sie Jacob Burckhardt ins Unbegrenzte verrückt hat– letztlich eine Bastion gegen das Nichts, gegen das sich in die sichtbare Dingwelt hineinfressende Nichts. Bruno Griesel öffnet gewissermaßen wieder das schwarze, zusammen gequetschte Quadrat von Kasimir Malewitsch für die Entfaltung der Ornamentale und ausladenden Figuren, in einem Akt voller Intelligenz und voller Vergnügen, aber auch getränkt vom Zweifel über den heutigen Zustand der Welt.
Elmar Zorn