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Meine Oma | 1982 | 135 x 100 cm | Öl auf Leinwand

Malerei und Geschichte,  die Langmut einer alten Kunst

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stoßen wir auf unsere Träume, und liegen diese auch unter Trümmern der Träume von vierzig Jahren, wir haben in ihnen umzu-gehen. Denn ich bezweifle, ob sich ohne diesen Um-gang ein Zeichen für Morgen, für ein Weitergehen, fin-den lassen wird. Nun gehört zu diesem Umgang mit Träumen mit  Notwendigkeit Erinnerung, nicht selten ver-bunden mit einem Ergebnis, das Melancholie genannt wird. Auch bei  Bruno Griesel entdeckte ich jene melancholische Grundstimmung in seinen Bildern. Die Mäd-chen mit den großen träumenden Augen, in den so nie gesehenen Städten. Fixierbilder einer Zeit zwischen Re-volution und Agonie. Doch diese findet draußen statt, drinnen herrscht Sehnsucht nach Versöhnung. Der Maler steht an der Staffelei und hilft sich selbst, mit der ihm mög-lichen Art der Lebenshilfe, zu Malen.

Peter Lang,
Leipzig, Januar 1990

Die HochZeit | 1990-1996 |
240 x 122 cm |Öl auf Leinwand
Claudia et trois hommes | 1992-99 |
200 x 150 cm |Öl auf Leinwand
Die Geburt | 1994-1995 |
260 x 172 cm | Öl auf Leinwand
Die Zeugung | 1997-2003 |
200 x 120 cm | Öl auf Leinwand
Ödipus | 2002 | 200 x 120 cm | Öl auf Leinwand
Schwarzes Quadrat auf weißem Grund II | 2007 | 150 x 200 cm | Öl auf Leinwand
Aktäon in Venedig | 2008 | 150 x 100 cm | Öl auf Leinwand

Bruno Griesel – Aufbruch der Moderne

Mit Bruno Griesel erleben wir den vollen, prallen Auftritt deutscher figürlicher Malerei. Dass Bruno Griesel, ob-wohl Leipziger und Kommilitone von Neo Rauch, nicht von Anfang an mit der Neuen Leipziger Schule mitspiel-te, hat auch sein Gutes. Wir sehen eine spannende Adaptierung der deutschen Antike-Rezeption und des Rokokostils und die Fortsetzung deutschen literarischen Romantik mit malerischen Mitteln, so wie der magisch- realistische Maler Edgar Ende, auch er ein Grenzgän-ger, von seinem Sohn Michael Ende literarisch fortge-setzt wurde. Griesel bereitet sich ein halb ironisches, halb ernstes Spiel, mit den Motiven der Kunstgeschichte und der Philosophiegeschichte.

Malewitschs heroische Tat von 1915, die Setzung des alle Farben aufsaugenden Quadrats als Ende der alten und Anfang einer neuen Malerei und Lucio Fontanas die Malflächen zum Raum aufreißende Vergewaltigung im Schnitt in die Leinwand von 1958: diese Inkunabeln der Kunstgeschichte haben ihn geprägt, ihnen huldigt er und gleichzeitig rechnet er mit ihnen ab, mit diesen Haupt-positionen einer dezidierten Nicht-Malerei. In Griesels Werk „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ prallen Fraktale der Historie und Weltentwürfe aufeinander. Wir sehen einen der Gebrüder Wright, zitiert nach einem Fo-to vom ersten Probeflug 1909, mit der Fahne in der Hand, auf der Malewitschs schwarzes Quadrat aufge-bracht ist, ins Ungewisse blicken und konfrontiert mit Rokoko-Engeln aus Stein, Symbole eines der Vernunft Gren-zen setzenden Glaubens. Auf dem aufgerissenen Him-mel lastet ein bleierner Meeresstreifen, beide fußen auf einer leeren Raum bezeichnenden monochromen Flä-che. Solcher Raum ist für Griesel das eigentliche narra-tive Element, denn seine Vergegenwärtigung in der Malerei war in den 90-er Jahren nicht erlaubt. Nur das Flächige durfte sich ausbreiten, Perspektive war verpönt. Bei Griesel entstehen, wie er es ironisch beschreibt, „umge-kehrte Fontanas“: die Unendlichkeit des Raums begrenzt sich zu den Umrissen der Figuration auf der Malfläche.

Figürlichkeit manifestiert sich bei Griesel oft als eine drei-faltige, etwa im Werk „Pierrot Lunaire“, der vom Mond Beschienene, den der Künstler aber als vom Sonnenlicht Beschienenen darstellt. Seine wahrnehmungskritische Re-flexion, dass wir nämlich nur das Beschienene erkennen können- ein Gedankenspiel, das von Giordano Bruno überliefert ist- ist durch eine der Lieblingsikonen Griesels umgesetzt: dem Pierrot. Das Credo der Drei- bzw. Mehr-faltigkeit in der Kunst bezieht er auf die Forderung Peter Sloterdijks zur Vielfalt der Kunst. Sie spielt auch die Hauptrolle in den drei Werken „Das Oval und das Brot I-III“ , einer regelrecht alchimistischen Studie über den Leib des Menschenkörpers und den Laib des Brotlaibs, wobei der kleine Feuersalamander, die dreifaltige Ent-blößtheit der Mädchen und die Phallusform des Brot-laibs für den Künstler auf ständige Zeugung und Wand-lung im schöpferischen Recycling verweisen.

Das weiße unschuldsfarbige Ei, die Maske als das eigentliche, das göttliche Kulturverständnis, wie ja in der griechischen Theateraufführung die Gesichtsmaske als die wirkliche Person aufscheint, sowie die von links nach rechts zu le-sende Abfolge der Bilder, die eine Bewegung der Be-schleunigung erlebbar machen soll, bis zur Auflösung der Figuration in einen schlichten Kreis bzw. eine Ellipse, die in die Welt der Quanten entweicht: das wären ein-mal allegorisch aufgeladene Bedeutungen gewesen, wenn wir alle noch die Übereinkunft einer gemeinsamen Semantik hätten und sie eindeutig lesen könnten.

Wichtig ist also primär, dass wir zum Spiel aufgefordert sind, so wie das Rokoko gespielt hat, und in der Folge die deutsche Klassik und Romantik mit den Elementen Natur und Artefakt, in Stillleben, mit Puppenfiguren, mit Porzellanfigürchen und ihrer Größe, als Transfor- matio-nen und Metamorphosen von einem Element ins Ande-re, vom Großen ins Kleine und umgekehrt, wie wir dies in der Goethe-Reverenz „Wille und Abschied“ oder bei dem pro- grammatisch nicht fertiggestellten Bild „Flora“ sehen. Ein Spiel mit ikonographischen und kulturhistori-schen Kulissen, wie mit der Aufklärung als Klärung oder englisch „enlightenment“ als ins Wasser gefallene Leuch-ter, dem Aufeinandertreffen barocker Weltteilungszei-chen mit Botticelli-Gesten und Dürer-Gestus und schließ-lich das Hineinnehmen des Blickes des Zuschauers in das Bild, bekanntlich eine Bildleistung der deutschen Ro-mantik, wie wir es etwa bei C.D. Friedrich sehen.

Als „Romantik des Rokoko“ – mit dieser paradoxen For-mel ließe sich vielleicht die hochkomplexe, hochsinnliche Bildersprache von Bruno Griesel charakterisieren: eine Rückführung zum Theaterspiel einer sonnenbeschiene-nen, diesseitsbezogenen Welt, die an den Grenzen zwi-schen Wissen und Glauben eine tiefe Weltgläubigkeit einschließt, wie sie der Frühromantiker Friedrich Schlegel gepflegt und wie sie Jacob Burckhardt ins Unbegrenzte verrückt hat– letztlich eine Bastion gegen das Nichts, gegen das sich in die sichtbare Dingwelt hineinfressende Nichts. Bruno Griesel öffnet gewissermaßen wieder das schwarze, zusammen gequetschte Quadrat von Kasimir Malewitsch für die Entfaltung der Ornamentale und aus-ladenden Figuren, in einem Akt voller Intelligenz und vol-ler Vergnügen, aber auch getränkt vom Zweifel über den heutigen Zustand der Welt.
Elmar Zorn, 2008